Günter Scheibe

Prof. Dr. Günter Scheibe

Professor im Ruhestand (†31.05.1980)

Department Chemie und Pharmazie
Lehrstuhl für Physikalische Chemie

Nachruf

Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Günter Scheibe
(Erster Vertreter des eigenständigen Faches „Physikalische Chemie“ an der FAU)

Günter Scheibe wurde am 24.11.1893 in München als Sohn eines Hals-Nasen-Ohrenarztes geboren, der später als Leiter der HNO-Klinik an die Universität Erlangen berufen wurde. Nach dem Abitur am Theresiengymnasium in München begann er an der Ludwig-Maximilians-Universität im Jahre 1913 mit dem Studium von Physik und Chemie, das er nach seinem Wehrdienst als Krankenpfleger (1914/15) an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen fortsetzte, wobei sich das Schwergewicht bald zur organischen Chemie, insbesondere der Farbstoffe, verlagerte. Seine Lehrer waren insbesondere Richard Willstätter, Heinrich Wieland und Otto Fischer, bei dem er im November 1918 mit einer Arbeit über “Chinocyanine” zum Dr. phil. promovierte. Im selben Jahr synthetisierte er das N,N’-Diäthyl-2,2′-cyanin, von ihm Ψ-Isocyanin (Pseudo-isocyanin = PIC) genannt, das als Modell für intermolekulare Wechselwirkungen in vielen seiner Arbeiten eine zentrale Rolle spielt, sowie einen technisch brauchbaren Infrarot-Sensibilisator für die Photographie darstellt. Von seiner Dissertation an benutzte er die Absorptionsspektroskopie als sein wesentliches Werkzeug zur Kennzeichnung und Strukturermittlung organischer Verbindungen. Der Problemkreis Spektrum-Konformation-Elektronenstruktur-Reaktivität beschäftigte ihn bis in seine letzten Tage.

Nach einem Zwischenspiel als Assistent an der Medizinischen Akademie Düsseldorf, wo er sich 1920 mit der Haltbarmachung des damals gebackenen “Notbrotes” befaßte, habilitierte er sich 1922 als Assistent von Max Busch in Erlangen mit einer Arbeit “Zur Konstitution organischer Farbstoffe”. Er erhielt den Auftrag, dort am Institut für angewandte Chemie eine physikalisch-chemische Abteilung aufzubauen.

G. Scheibe lehnte 1924 einen Ruf nach Greifswald ab. Als er 1929 einen Ruf an die deutsche Hochschule in Prag erhielt, erklärte er sich bereit, in Erlangen zu bleiben, „wenn sein Fach wenigstens durch ein Extraordinariat vertreten würde“. Bereits im darauf folgenden Jahr erhielt G. Scheibe ein sehr attraktives Angebot aus Kiel. Auf Antrag des Senats wurde 1930 ein persönliches Ordinariat für ihn bewilligt um ihn in Erlangen zu halten.

1928 war G. Scheibe ein halbes Jahr als Gast bei James Franck am II. Physikalischen Institut in Göttingen. Er lernte dort neue Techniken kennen, insbesondere die Vakuum-UV-Spektroskopie, und brachte seinerseits interessante chemische Fragestellungen ein. Hier ergab sich auch eine Zusammenarbeit mit G. Herzberg (Nobelpreis 1971), aus der neben einigen Veröffentlichungen ein lebenslanges, freundschaftliches Verhältnis resultierte.

Als 1932 an der Technischen Hochschule München ein neues Institut und Ordinariat für Physikalische Chemie eingerichtet wurde, übernahm er dessen Aufbau und Leitung. Er führte es über die schwierige Kriegszeit, mit teilweiser Verlagerung auf das Sudelfeld, hinweg. Aus Verbundenheit mit diesem Institut lehnte er 1951 den ehrenvollen Ruf an die Universität Göttingen als Nachfolger von Arnold Eucken ab.

G. Scheibe wurde 1961 emeritiert, betreute aber bis fast zum 80. Lebensjahr noch einige Arbeiten. Das wissenschaftliche Werk von Günter Scheibe, von dessen Vielseitigkeit ca. 160 Publikationen Zeugnis geben, ist beherrscht von der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Farbe und Konstitution. Seine Fragestellung geht immer von der unmittelbaren Erfahrung des Chemikers mit dem Stoff aus; sein bevorzugtes Hilfsmittel ist die Spektroskopie, zu deren Entwicklung er selbst wesentliche Beiträge geliefert hat. Schon in seiner Dissertation kennzeichnete er die von ihm dargestellten Cyaninfarbstoffe, darunter das neu synthetisierte Pseudoisocyanin, durch ihre charakteristischen Lichtabsorptionsbanden. In einer unmittelbar folgenden Arbeit beschrieb er eine Verbesserung des Handspektroskops. Die Spektroskopie diente ihm bei seinen weiteren Arbeiten nicht nur zur qualitativen, sondern auch zur quantitativen Analyse und zur Erforschung der Elektronenstruktur von Molekülen. Mit der 1924 von ihm entwickelten photographischen Methode hat er Ultraviolett-Absorptionsspektren aufgenommen, wie sie die modernen lichtelektrischen Geräte von heute kaum besser liefern. Schon 1926 ordnete er bestimmte Absorptionsbanden der Ketone verschiedenen Teilen des Moleküls zu und unterschied sie aufgrund ihres Lösungsmitteleffekts. Mit Pummerer untersuchte er die Konstitution des Kautschuks und stützte aus der UV-Absorption die Ansicht, daß nur isolierte Doppelbindungen vorhanden sind (1927). Er entdeckte die Elektronen-affinitätsspektren der Halogenionen und brachte sie in Beziehung zu ihren Redoxpotentialen (1927/28). Mit Hilfe der dabei gewonnenen Erkenntnisse deutete er, zusammen mit G. Herzberg, die Schumann-Spektren der Methylhalogenide. Auch viele andere einfache organische Verbindungen wurden im Vakuum-UV untersucht.

1936 fand er die Assoziation des Pseudoisocyanins (das er schon 1918 synthetisiert hatte) und anderer Cyanine zu den “reversiblen Farbstoffpolymerisaten” mit ihren charakteristischen Assoziatbanden (Bei Kodak in England hatte E.E. Jelley im selben Jahr einen analogen Effekt an Farbstoff-Adsorbaten entdeckt, die er im Zusammenhang mit der photographischen Sensibilisierung studierte. Die Angelsachsen nannten die neue, extrem scharfe Assoziat-Absorption Herrn Jelley zu Ehren gleich J-Banden, und dabei blieb es. Andererseits hat sich für diese Form von Aggregaten der Term „Scheibe – Aggregate“ durchgesetzt). Diese Entdeckung und die darauf fußenden Arbeiten sind es vor allem, die Scheibes Namen bei den physikalisch orientierten Organikern und Photochemikern weltweit bekannt gemacht haben. Die Assoziate erwiesen sich als besonders geeignete Modelle zum Studium der zwischenmolekularen Kräfte, der Energieleitung und des Mechanismus der spektralen Sensibilisierung photographischer Schichten. G. Scheibe entdeckte, daß die Assoziation durch Wechselwirkung mit biochemisch und medizinisch interessanten Substraten sehr spezifisch begünstigt werden kann (1958). Er gründete darauf einen empfindlichen Nachweis für Mucopolysaccharide (1967 mit Vogt und Suschke). An den monomeren Farbstoffen entdeckte er eine einfache Beziehung zwischen Lichtabsorption und Basizität; beim Versuch, diese zu deuten, machte er die für Abschätzungen sehr nützliche, merkwürdige Beobachtung, daß die Termdifferenzen gewisser angeregter Zustände der verschiedensten Moleküle denjenigen des Wasserstoffatoms sehr ähnlich sind (1952). Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Theorie der Molekülspektren stehen Untersuchungen mit polarisiertem Licht über die Lage der Übergangsmomente innerhalb der Moleküle. Ein frühes Beispiel dafür ist der Nachweis einer bevorzugten Orientierung der aromatischen Ringe im Tabakmosaikvirus, zusammen mit Adolf Butenandt (1942). Die photochemische trans-cis-Umlagerung, die bei einfachen Cyaninen gefunden wurde (1954), war Anlaß zu theoretischen und experimentellen Arbeiten über die Elektronenverteilung in organischen Verbindungen. Auch das Studium der Tautomerie der Dichinolylmethane diente zur Aufklärung des Zusammenhangs zwischen Elektronenstruktur und Lage des Gleichgewichts.

Neben der Absorptionsspektroskopie begann Günter Scheibe bereits 1928 mit der Anwendung der Emissionsspektroskopie in der quantitativen Analyse von Metallen, die später auch auf Glas und andere nichtleitende Materialien ausgedehnt wurde. Sie führte zu verschiedenen apparativen Entwicklungen und zu neuen Einsichten in den Entladungsvorgang.

Als akademischer Lehrer hat G. Scheibe eine große Zahl von jungen Wissenschaftlern begeistert und sie zum Gebrauch ihrer Phantasie angeregt. Allen hat er große Freiheit gewährt und auch Gebiete gefördert, die nicht in seinem unmittelbaren Interesse lagen, wie: Röntgenstrukturanalyse (W. Hoppe), Elektrochemie (C.A. Knorr), Theoretische Chemie (E. Ruch) und Wissenschaftliche Photographie (H. Frieser). Seine Vorlesung war im Aufbau unkonventionell, oft von interessanten Seiten- und Ausblicken unterbrochen. Stets mühte er sich um didaktisch klare Modelle für komplizierte Vorgänge. Sein zeichnerisches Talent kam bei seinen Tafelskizzen ans Licht.

An seinem Institut herrschte auch in politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten, so während der kriegsbedingten Auslagerung in das Berghotel Sudelfeld bei Bayrischzell und beim Wiederaufbau in den Fünfzigerjahren, eine warme Atmosphäre der gegenseitigen Achtung und Hilfsbereitschaft aller Mitglieder. Er liebte die Geselligkeit bei Feiern im Institut und auf gemeinsamen Wanderungen, während er sich von der “großen Gesellschaft” zurückhielt. Öffentliches Auftreten war ihm eher peinlich.

Außerhalb der Hochschule war G. Scheibe maßgeblich an der Einrichtung der neuen chemischen Abteilung des Deutschen Museums beteiligt, dessen Vorstand er über viele Jahre angehörte. Er ist Mitbegründer der Spectrochimica Acta und war Mitherausgeber der Berichte der Bunsengesellschaft für physikalische Chemie. Als Fachgutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft stellte er seine breiten Kenntnisse in den Dienst der Forschungsförderung.

Die vielseitigen wissenschaftlichen Leistungen von G. Scheibe fanden Anerkennung durch seine Berufung in die Bayerische Akademie der Wissenschaften (1940), die Deutsche Akademie der Naturforscher, Leopoldina, in den Senat der Fraunhofer-Gesellschaft und in die Vorstände des Deutschen Museums und des Deutschen Spektroskopikerausschusses.

Die Ludwig-Maximilians-Universität München verlieh G. Scheibe am 04.12.1963 den Dr. rer. nat. h. c., die Universität Erlangen-Nürnberg ebenfalls den Dr. rer. nat. h. c. am

08. 06. 1966. Von der Gesellschaft Deutscher Chemiker wurde ihm 1964 die Liebig-Denkmünze verliehen. Der bayerische Staat zeichnete ihn im Jahre 1968 mit dem bayerischen Verdienstorden aus.

Aus Anlass des 100. Geburtstages von Günter Scheibe organisierten J. Friedrich (Univ. Bayreuth) und S. Schneider (Univ. Erlangen-Nürnberg) 1993 das 122. WE-Heraeus-Seminar als „Günter-Scheibe-Colloqium“ mit dem Titel:  Non-linear Laser Spectroscopy of Organic Dyes in Condensed Phase. Der Zeitpunkt war insofern glücklich gewählt als die rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der cw-Laser (hohe spektrale Auflösung) und der Kurzpuls-Laser (hohe Zeitauflösung und hohe Spitzenleistungen) neue Möglichkeiten boten  für Anregung und Abfrage. Weiter entwickelte Techniken erlaubten, die verschiedenen strahlenden und strahlungslosen intramolekularen elektronischen Relaxationsprozesse, den intermolekularen Elektronentransfer und die ersten Schritte photoinduzierter Reaktionen mit bis dahin unerreichter Präzision zu verfolgen. Daher wurden auch viele Fragestellungen, die G. Scheibe und Mitarbeiter bereits an den Pseudoisocyanin-Aggregaten untersucht hatten, wieder aufgegriffen, wie z. B. ihre Resonanzfluoreszenz und deren Löschung durch sehr verdünnt eingebaute Gastmoleküle.

Aus dem zuletzt genannten Effekt schloß Scheibe auf eine verlustlose Energiefortleitung über die Assoziat-Kette. Edward Teller beschrieb diese als erster theoretisch in einem Excitonenmodell. Damit verbunden ist die Frage nach der minimalen Kettenlänge für das Auftreten der J-Bande, nach der Kohärenzlänge der delokalisierten Excitonen, und nach der räumlichen Struktur der Aggregate.

Entsprechend der Vielzahl der Fragestellungen, die mit Pseudoisocyanin-Aggregaten als Modellsubstanz untersucht werden können, erschienen in den 1990er Jahren mehrere Hundert Publikationen, sowohl experimenteller als auch theoretischer Natur, zum Themenkreis „Scheibe – Aggregate“.